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Szenen nach E.T.A. Hoffmann
3. Szene
Theodor (winkt besänftigend ab): Ich denke da eben an einen Mann, dessen
toller Humor in der Tat bewirkte, dass die
halbe Stadt, wo er lebte, ihn für wahnsinnig ausschrie. Kein Mensch konnte weniger Anlage zum eigentlichen,
entschiedenen Wahnsinn haben als eben er.
Cyprian: Erzähl!
Theodor: Die Art, wie ich seine Bekanntschaft machte, ist ebenso seltsam als die Lage, in der ich ihn
wiederfand, rührend und das innerste Herz ergreifend. Ich möcht' euch davon
erzählen, um den sanften Übergang
vom Wahnsinn durch den Spleen in die völlig gesunde Vernunft zu bewirken.
Cyprian: Hör ich recht, in die völlig gesunde Vernunft?
Theodor: Befürchten muss ich nur, zumal von Musik viel die Rede sein
dürfte, dass ihr mir denselben Vorwurf machen werdet, den ich Cyprian entgegenwarf,
dass ich nämlich meinen Gegenstand phantastisch ausschmücke und viel von dem
Meinigen hinzufüge, was denn doch gar nicht der Fall sein wird. Ich bemerke
indessen, dass Lothar sehnsüchtige Blicke auf die Bowle wirft! Bedient euch,
sage ich nur, bedient euch!
Lothar (indem er sich einschenkt):
Erzähle von deinem spleenischen Mann. Sei
humoristisch — lustig — rührend — ergreifend
— sei alles, was du willst, nur erlöse uns von dem vermaledeiten
wahnsinnigen Einsiedler, zu dem uns Cyprian
geschleppt hat!
Theodor: Der Mann, von dem ich sprechen will, ist niemand anders als der
Rat Krespel in Heilbronn. Dieser
Rat Krespel war nämlich einer der allerwunderlichsten Menschen, die mir jemals
im Leben vorgekommen.
Lothar: Das will was heißen!
Theodor: Als ich nach Heilbronn zog, um mich einige
Zeit dort aufzuhalten, sprach die ganze
Stadt von ihm, weil soeben einer seiner
allernärrischsten Streiche in voller Blüte stand.
Ottmar (schenkt sich ein): Lass
hören!
Theodor: Rat Krespel war berühmt als gelehrter gewandter Jurist und als
tüchtiger Diplomatiker. Ein nicht eben bedeutender regierender Fürst in
Deutschland hatte sich an ihn gewandt, um ein Memorial auszuarbeiten, das die
Ausführung seiner rechtsbegründeten Ansprüche
auf ein gewisses Territorium zum
Gegenstand hatte, und das er dem Kaiserhofe einzureichen gedachte. Das
geschah mit dem glücklichsten Erfolg, und da Krespel einmal geklagt hatte, dass
er nie eine Wohnung seiner Bequemlichkeit
gemäß finden könne, übernahm der Fürst, um ihn für jenes Memorial zu
lohnen, die Kosten eines Hauses, das Krespel ganz nach seinem Gefallen aufbauen
lassen sollte. Auch den Platz dazu wollte der Fürst nach Krespels Wahl ankaufen
lassen. Das nahm Krespel indessen nicht an, vielmehr blieb er dabei, dass das
Haus in seinem vor dem Tor in der schönsten Gegend gelegenen Garten erbaut
werden solle.
Ottmar: Wahnsinn!
Theodor: Sachte, sachte! Krespel kaufte alle nur mögliche Materialien
zusammen und ließ sie herausfahren; dann sah man ihn, wie er tagelang in seinem
sonderbaren Kleide den Kalk löschte, den Sand siebte, die Mauersteine in
regelmäßige Haufen aufsetzte u.s.w. Mit irgendeinem Baumeister hatte er nicht
gesprochen, an irgendeinen Riss nicht gedacht. An einem guten Tage ging er indessen
zu einem tüchtigen Mauermeister und bat ihn, sich morgen bei Anbruch des Tages
mit sämtlichen Gesellen und Burschen, vielen Handlangern u.s.w. in dem Garten einzufinden und sein Haus zu bauen. Der
Baumeister fragte natürlicherweise nach dem Bauriss und erstaunte nicht
wenig, als Krespel erwiderte, es bedürfe dessen gar nicht, und es werde sich
schon alles, wie es sein solle, fügen. Als der Meister anderen Morgens mit
seinen Leuten an Ort und Stelle kam, fand er einen im regelmäßigen Viereck
gezogenen Graben, und Krespel sprach:
Krespel (der unterdessen auf dem Podest erschienen ist): Hier soll
das Fundament meines Hauses gelegt werden, und dann bitte ich die vier Mauern
so lange heraufzuführen, bis ich sage, nun ist's hoch genug.
Theodor: ‚Ohne Fenster und Türen, ohne Quermauern?' rief der Meister
erschrocken, doch Krespel ruhig:
Krespel: So wie ich Ihnen es sage, bester Mann, das übrige wird sich
alles finden.
Theodor: Nur das Versprechen reicher Belohnung konnte den Meister bewegen,
den unsinnigen Bau zu unternehmen; aber nie ist einer lustiger geführt worden.
Unter beständigem Lachen der Arbeiter, die die Arbeitsstätte nie verließen, da
es Speis und Trank vollauf gab, stiegen die vier Mauern unglaublich schnell in
die Höhe, bis eines Tages Krespel rief:
Krespel: Halt!
Theodor: Da schwieg Kell' und Hammer, die Arbeiter stiegen von den
Gerüsten herab, und indem sie den Krespel im Kreise umgaben, sprach es aus
jedem lachenden Gesicht: ,Aber wie nun weiter?'
Krespel: Platz!
Theodor: ...rief Krespel, lief nach einem Ende des Gartens und schritt
dann langsam auf sein Viereck los, dicht an der Mauer schüttelte er unwillig
den Kopf, lief nach dem andern Ende des Gartens, schritt wieder auf das Viereck
los und machte es wie zuvor. Noch einige Male wiederholte er das Spiel, bis er
endlich, mit der spitzen Nase hart an die Mauer anlaufend, laut schrie:
Krespel: Heran, heran, ihr Leute, schlagt mir die Tür ein, hier schlagt
mir eine Tür ein!
Theodor: Er gab Länge und Breite genau nach Fuß und Zoll an, und es
geschah, wie er geboten. Nun schritt er hinein in das Haus und lächelte
wohlgefällig, als der Meister bemerkte, die Mauern hätten gerade die Höhe eines
tüchtigen zweistöckigen Hauses. Krespel ging in dem innern Raum bedächtig auf
und ab, hinter ihm her die Maurer mit Hammer und Hacke, und sowie er rief:
Krespel: Hier ein Fenster, sechs Fuß hoch, vier Fuß breit! - dort ein
Fensterchen, drei Fuß hoch, zwei Fuß breit!
Theodor: ...so wurde es flugs eingeschlagen.
Ottmar: Woher weißt du das so genau?
Theodor: Gerade während dieser Operation kam ich nach Heilbronn! Und es
war höchst ergötzlich anzusehen, wie Hunderte von Menschen um den Garten
herumstanden und allemal laut aufjubelten, wenn die Steine herausflogen und
wieder ein neues Fenster entstand. Mit dem übrigen Ausbau des Hauses und mit
allen Arbeiten, die dazu nötig waren, machte es Krespel auf eben dieselbe
Weise. Die Possierlichkeit des ganzen
Unternehmens, vorzüglich aber Krespels Freigebigkeit, die ihm freilich
nichts kostete, erhielt alle bei guter Laune. So wurden die Schwierigkeiten
überwunden, und in kurzer Zeit stand ein völlig eingerichtetes Haus da, welches
von der Außenseite den tollsten Anblick gewährte, da kein Fenster dem andern gleich war, dessen innere Einrichtung
aber eine ganz eigene Wohlbehaglichkeit erregte. Alle, die hineinkamen,
versicherten dies, und ich selbst fühlte es, als Krespel nach näherer
Bekanntschaft mich hineinführte. Bis jetzt hatte ich nämlich mit dem seltsamen
Manne noch nicht gesprochen, der Bau beschäftigte ihn so sehr. Den Dienstag
nach dem Feste für die Bauleute fand ich Krespel endlich zu meiner nicht
geringen Freude bei Professor Michel. Verwunderlicheres als Krespels Betragen
kann man nicht erfinden. Steif und ungelenk in der Bewegung, glaubte man jeden
Augenblick, er würde irgendwo anstoßen, irgendeinen Schaden anrichten, das
geschah aber nicht. Dabei sprach er viel und heftig. Es war von Musik die Rede,
man rühmte einen neuen Komponisten, da lächelte Krespel und sprach mit seiner
leisen singenden Stimme:
Krespel: Wollt' ich doch, dass der schwarzgefiederte Satan den verruchten
Tonverdreher zehntausend Millionen Klafter tief in den Abgrund der Hölle
schlüge!
Ottmar (verblüfft): Was?
Theodor (Ottmar mit der Hand um Ruhe bittend)
Krespel: Sie ist ein Engel des Himmels, nichts als reiner, Gott geweihter
Klang und Ton! Licht und Sternbild alles Gesanges!
Theodor: Dabei standen ihm Tränen in den Augen. Man musste sich erinnern,
dass vor einer Stunde von einer berühmten Sängerin gesprochen worden. Da fragte
des Professors Nichte: ,Was macht denn unsere Antonie,
lieber Rat?' Krespel schnitt ein Gesicht, als wenn jemand in eine bittere
Pomeranze beißt.
Krespel (grimmig) Unsere? Unsere liebe
Antonie?
Theodor: Der Professor kam schnell heran und fragte ablenkend
,Wie steht es mit den Violinen?' Da heiterte sich Krespels Gesicht auf,
und er erwiderte mit seiner starken Stimme:
Krespel: Vortrefflich, Professor, vortrefflich! Erst heute hab' ich die treffliche Geige von Amati, von der ich
neulich erzählte, welch ein Glücksfall sie mir in die Hände gespielt,
erst heute habe ich sie aufgeschnitten. Ich hoffe, Antonie wird das übrige
sorgfältig zerlegt haben.
Theodor: ,Antonie ist ein gutes Kind', sprach der
Professor.
Krespel (schreiend): Ja wahrhaftig, das ist
sie! (ergreift hastig Hut und Stock und tritt ab)
Cyprian: Was ging da vor?
Theodor: Sobald der Rat fort war, drang ich in den Professor, mir zu
sagen, was es mit den Violinen und vorzüglich mit Antonien für eine Bewandtnis
habe.
Professor Michel (erscheint auf dem Podest): Ach, wissen Sie, wie denn der
Rat überhaupt ein ganz wunderlicher Mensch ist, so treibt er auch das
Violinbauen auf ganz eigne tolle Weise.
Theodor: Violinbauen?
Professor Michel: Ja, Krespel verfertigt nach dem Urteil der Kenner die herrlichsten Violinen, die man in neuerer Zeit nur
finden kann: Früher ließ er manchmal, war ihm eine besonders gelungen,
andere darauf spielen, das ist aber seit einiger Zeit ganz vorbei. Hat Krespel
eine Violine gemacht, so spielt er selbst eine oder zwei Stunden darauf, und
zwar mit hinreißendem Ausdruck, dann hängt er sie aber zu den übrigen, ohne sie
jemals wieder zu berühren oder von andern berühren zu lassen. Ist nur
irgendeine Violine von einem alten vorzüglichen Meister aufzutreiben, so kauft
sie der Rat um jeden Preis. Ebenso wie seine Geigen, spielt er sie aber nur ein
einziges Mal, dann nimmt er sie auseinander, um ihre innere Struktur genau zu
untersuchen, und wirft, findet er nach seiner Einbildung nicht das, was er gerade
suchte, die Stücke unmutig in einen großen Kasten, der schon voll Trümmer
zerlegter Violinen ist.
Theodor: Und was ist mit Antonie?
Professor Michel: Das ist nun eine Sache, die den Rat mich könnte in höchstem Grade verabscheuen lassen, wenn ich nicht
überzeugt wäre, dass bei dem im tiefsten Grunde bis zur Weichlichkeit
gutmütigen Charakter des Rates es damit eine besondere geheime Bewandtnis haben
müsse.
Theodor: Wie das?
Professor Michel: Als vor mehreren Jahren der Rat hierher nach Heilbronn kam, lebte
er einsiedlerisch mit einer alten Haushälterin. Bald erregte er durch seine
Sonderbarkeiten die Neugierde der Nachbarn, und als er dies merkte, suchte er
Bekanntschaften. Überall gewöhnte man sich so an ihn, dass er unentbehrlich
wurde. Wir hielten ihn alle für einen Hagestolz, und er widersprach dem nicht.
Nachdem er sich einige Zeit hier aufgehalten, reiste er ab, niemand wusste
wohin, und kam nach einigen Monaten wieder. Den andern Abend nach seiner
Rückkehr waren Krespels Fenster ungewöhnlich erleuchtet. Bald vernahm man die
ganz wunderherrliche Stimme eines
Frauenzimmers, von einem Pianoforte begleitet. Dann wachten die Töne
einer Violine auf und stritten in regem feurigen Kampfe mit der Stimme. Man hörte gleich, dass
es der Rat war, der spielte. Ich selbst mischte mich unter die Menge, die das
wundervolle Konzert vor dem Hause des Rates versammelt hatte, und ich muss
Ihnen gestehen, dass gegen die Stimme, gegen den ganz eigenen, tief in das
Innerste dringenden Vortrag der Unbekannten mir der Gesang der berühmtesten
Sängerinnen, die ich gehört, matt und ausdruckslos schien.
Theodor: Das war Antonie?
Professor Michel: Es mochte schon Mitternacht sein, als man den Rat sehr heftig reden hörte, eine andere
männliche Stimme schien, nach dem Tone zu urteilen, ihm Vorwürfe zu
machen, dazwischen klagte ein Mädchen in abgebrochenen Reden. Heftiger und
heftiger schrie der Rat. Ein lauter Schrei des Mädchens unterbrach ihn, dann
wurde es totenstille, bis es plötzlich die Treppe herabpolterte, und ein junger Mensch schluchzend hinausstürzte, der
sich in eine nahe stehende Postchaise warf und rasch davonfuhr. Tags
darauf erschien der Rat sehr heiter, und niemand hatte den Mut, ihn nach der
Begebenheit der vorigen Nacht zu fragen.
Theodor: Die Sängerin also war geblieben?
Professor Michel: Die Haushälterin sagte auf Befragen, dass der Rat ein
bildhübsches, blutjunges Mädchen mitgebracht, die er Antonie nenne, und die
habe so schön gesungen. Auch sei ein junger
Mann mitgekommen, der wohl ihr Bräutigam sein müsse. Der habe aber, weil
es der Rat durchaus gewollt, schnell abreisen müssen.
In welchem Verhältnis Antonie mit dem Rat stehet, ist
bis jetzt ein Geheimnis, aber so viel ist gewiss, dass er das arme Mädchen auf
die gehässigste Weise tyrannisiert. Er bewacht sie wie der Doktor Bartolo im ,Barbier von Sevilla' seine Mündel; kaum darf sie sich am
Fenster blicken lassen. Führt er sie auf inständiges Bitten einmal in
Gesellschaft, so verfolgt er sie mit Argusblicken und leidet durchaus nicht,
dass sich irgendein musikalischer Ton hören lasse, viel weniger, dass Antonie
singe, die übrigens auch in seinem Hause nicht mehr singen darf. Antoniens
Gesang in jener Nacht ist daher unter dem Publikum der Stadt zu einer Phantasie
und Gemüt aufregenden Sage von einem herrlichen Wunder geworden. (tritt ab)
Theodor: Ihr wisst, dass ich auf solche phantastische Dinge ganz versessen
bin, und könnt wohl denken, wie notwendig ich es fand, Antoniens Bekanntschaft
zu machen. Ich war fest entschlossen, die Königin des Gesanges aus schmachvollen Banden zu befreien. Aber es
kam anders, wie ich es mir gedacht hatte; denn kaum
hatte ich den Rat zwei- bis dreimal gesehen und mit ihm eifrig über die beste
Struktur der Geigen gesprochen, als er mich einlud, ihn in seinem Hause zu besuchen.
Ich tat es, und er zeigte mir den Reichtum seiner Violinen. Es hingen deren
wohl dreißig in einem Kabinett, unter ihnen zeichnete sich eine durch alle
Spuren der hohen Altertümlichkeit aus, und sie schien, höher gehängt und mit
einer darüber angebrachten Blumenkrone, als Königin den andern zu gebieten. Ich
fragte ihn danach. (tritt zum Podest)
Krespel (erscheint mit Violine in der Hand): Diese Violine ist ein sehr merkwürdiges Stück eines unbekannten
Meisters, wahrscheinlich aus Tartinis Zeiten. Ganz überzeugt bin ich, dass in
der innern Struktur etwas Besonderes liegt, und dass, wenn ich sie zerlegte,
sich mir ein Geheimnis erschließen würde, dem ich längst nachspürte, aber —
lachen Sie mich nur aus, wenn Sie wollen — dies tote Ding, dem ich selbst doch
nur erst Leben und Laut gebe, spricht oft aus sich selbst zu mir auf
wunderliche Weise, und es war mir, da ich zum ersten Male darauf spielte, als
war ich nur der Magnetiseur, der die Somnambule zu erregen vermag, dass sie
selbsttätig ihre innere Anschauung in Worten verkündet. Glauben Sie ja nicht,
dass ich geckhaft genug bin, von solchen Phantastereien auch nur das mindeste
zu halten, aber eigen ist es doch, dass ich es nie über mich erhielt, jenes
dumme tote Ding aufzuschneiden. Lieb ist es mir jetzt, dass ich es nicht getan,
denn seitdem Antonie hier ist, spiele ich ihr zuweilen etwas auf dieser Geige
vor.
Theodor: O mein bester Herr Rat, wollten Sie das nicht in meiner Gegenwart
tun?
Krespel (mit süßsaures Gesicht):
Nein, mein bester Herr Studiosus! (drückt ihm ein Papier in die Hand)
Sie sind ein Freund der Kunst, nehmen Sie dies Geschenk als ein teures
Andenken, das Ihnen ewig über alles wert bleiben muss. (schiebt ihm vom
Podest, tritt ab)
Theodor: (öffnet das Papier): Als ich das Papierchen aufmachte, fand ich ein ungefähr ein Achtelzoll
langes Stückchen einer Quinte und dabei geschrieben: ,Von
der Quinte, womit der selige Stamitz seine Geige bezogen hatte, als er
sein letztes Konzert spielte’.
Cyprian: Du hast die Sängerin also nie zu Gesicht bekommen!
Theodor: Die schnöde Abfertigung, als ich Antonie erwähnte, schien mir zu
beweisen, dass ich sie wohl nie zu sehen bekommen würde. Dem war aber nicht so!
Als ich den Rat keck zum zweiten Male besuchte, fand ich Antonie in seinem
Zimmer, ihm helfend bei dem Zusammensetzen einer Geige.
Ottmar: Wie unromantisch! (nimmt sich Bowle)
Lothar: Nichts mit Wahnsinn! (nimmt sich Bowle)
Theodor: Antoniens Äußeres machte auf den ersten Anblick keinen starken
Eindruck, aber bald konnte man nicht loskommen von dem blauen Auge und den
holden Rosenlippen der ungemein lieblichen Gestalt. Wurde etwas
Geistreiches und Heiteres gesagt, flog in süßem Lächeln ein feuriges Inkarnat
über ihre Wangen hin, das jedoch bald im rötlichen Schimmer erblasste. Ganz
unbefangen sprach ich mit Antonien und bemerkte durchaus nichts von den
Argusblicken Krespels. So geschah es, dass ich öfter den Rat besuchte. Er blieb
mit seinen höchst seltsamen Skurrilitäten mir höchst ergötzlich; aber es war
Antonie, die mich mit unwiderstehlichem Zauber hinzog. Vorzüglich zuwider war
es mir aber, dass er, sobald ich das Gespräch auf Musik, insbesondere auf
Gesang lenkte, mit seinem diabolisch lächelnden Gesicht einfiel und etwas meist
Gemeines auf die Bahn brachte. An der tiefen Betrübnis, die dann aus Antoniens
Blicken sprach, merkte ich wohl, dass es nur geschah, um irgendeine
Aufforderung zum Gesange mir abzuschneiden. Ich ließ nicht nach. (Krespel
und Antonie erscheinen auf dem Podest) Eines Abends war Krespel bei
besonders guter Laune; er hatte eine alte Cremoneser Geige zerlegt und
gefunden, dass der Stimmstock um eine halbe Linie schräger als sonst gestellt
war. Wichtige, die Praxis bereichernde Erfahrung! Es gelang mir, ihn über die wahre Art des Violinenspielens in Feuer
zu setzen. (tritt zum Podest) Was ist unsinniger als solche vertrackte Manieren, welche, statt Musik zu
sein, dem Tone über den Boden hingeschütteter Erbsen gleichen.
Krespel: Haha! Mich dünkt, ich höre unsere deutschen Italiener oder unsere
italienischen Deutschen, wie sie sich in einer Arie von Pucitta oder Portogallo
oder sonst einem Maestro di Capella übernehmen.
Theodor (zu Antonien gewandt): Nicht wahr, von dieser Singerei weiß
Antonie nichts?
Antonie (fühlt sich herausgefordert, stellt sich in Positur, will
singen)
Krespel (drängt sie fort, schreit):Söhnchen! — Söhnchen! (Theodors Hand ergreifend, in höflich gebeugter Stellung) In der
Tat, mein höchst verehrungswürdiger Herr Studiosus, in der Tat, gegen alle
Lebensart, gegen alle guten Sitten würde es anstoßen, wenn ich laut und lebhaft
den Wunsch äußerte, dass Ihnen hier auf der Stelle gleich der höllische Satan
mit glühenden Krallenfäusten sanft das Genick abstieße und Sie auf die Weise
gewissermaßen kurz expedierte; aber davon abgesehen, müssen Sie eingestehen,
Liebwertester, dass es bedeutend dunkelt, und da heute keine Laterne brennt,
könnten Sie, würfe ich Sie auch gerade nicht die Treppe herab, doch Schaden
leiden an Ihren lieben Gebeinen. Gehen Sie fein zu Hause und erinnern Sie sich
freundschaftlichst Ihres wahren Freundes, wenn Sie ihn etwa nie mehr —
verstehen Sie wohl? — nie mehr zu Hause antreffen sollten! (umarmt ihn,
dreht sich, ihn vom Podest drängend, ab)
Theodor: Ich hatte es auf immer mit dem Rat verdorben! Im Innersten
zerrissen, verließ ich Heilbronn. (nimmt Bowle, setzt sich)
Lothar: Du hast die schöne Sängerin nie gehört?
Ottmar: Und in den Händen dieses Irren gelassen?
Theodor (trinkt): Zwei Jahre war ich schon
in Berlin angestellt, als ich eine Reise nach dem südlichen Deutschland
unternahm. Im duftigen Abendrot erhoben sich die Türme von Heilbronn; sowie ich näher und näher kam, ergriff
mich ein unbeschreibliches Gefühl der peinlichsten Angst; wie eine
schwere Last hatte es sich über meine Brust gelegt, ich konnte nicht atmen; ich
musste heraus aus dem Wagen ins Freie. Bis
zum physischen Schmerz steigerte sich meine Beklemmung. Mir war es bald,
als hörte ich die Akkorde eines feierlichen
Chorals durch die Lüfte schweben. ‚Was ist das? Was ist das?' rief ich. ,Sehen Sie denn nicht,' erwiderte der neben mir fahrende
Postillon, ,sehen Sie es denn nicht? Da
drüben auf dem Kirchhof begraben sie einen!' In der Tat befanden wir uns
in der Nähe des Kirchhofes, und ich sah einen Kreis schwarz gekleideter
Menschen um ein Grab stehen, das man zuzuschütten im Begriff stand. Der Choral
schwieg. Ich schritt rasch den Hügel hinab. Ich bemerkte unfern des Tores
schwarzgekleidete Menschen, die von dem Begräbnis zurückkamen. Was sag ich
euch! Der Professor mit seiner Nichte am Arm, beide in tiefer Trauer, schritten
dicht bei mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Es war mir unmöglich, in die Stadt hineinzugehen, ich schickte meinen Bedienten mit dem Wagen nach dem
gewohnten Gasthofe und lief in die mir wohlbekannte Gegend. Als ich in
die Allee kam, ging vor mir das sonderbarste Schauspiel auf. Rat Krespel wurde
von zwei Trauermännern geführt, denen er durch allerlei seltsame Sprünge
entrinnen zu wollen schien. Er war, wie gewöhnlich, in seinen wunderlichen
grauen, selbst zugeschnittenen Rock gekleidet,
nur hing von dem kleinen dreieckigen Hütchen; das er martialisch auf ein
Ohr gedrückt, ein sehr langer schmaler Trauerflor herab, (Krespel erscheint
auf dem Podest mit Hütchen und Trauerflor) der in der Luft hin- und
herflatterte. Um den Leib hatte er ein schwarzes Degengehenk geschnallt, doch
statt des Degens einen langen Violinbogen hineingesteckt. Die Männer verließen
ihn, und nun fiel sein Blick auf mich.
Krespel: Willkommen, Herr Studiosus!
Sie verstehen es ja auch!
Theodor (tritt aufs Podest, in trostlosem Jammer):
Antonie! Ach Antonie!
Krespel: Als
sie starb, zerbrach mit dröhnendem Krachen
der Stimmstock in jener Geige, und der Resonanzboden riss sich auseinander.
Die Getreue konnte nur mit ihr, in ihr leben; sie liegt bei ihr im Sarge, sie
ist mit ihr begraben worden. (fängt an, mit rauhem Ton ein lustig Lied zu
singen, springt irre, so dass der Flor über Theodor herzieht)
Theodor (schreit auf)
Krespel:
Söhnchen? Söhnchen? Warum schreist du so? Hast du
den Totenengel geschaut? Das geht allemal der Zeremonie vorher! (reißt den
Violinbogen aus dem Gehenke, hält ihn mit beiden Händen über den Kopf und
zerbricht ihn, laut lachend) Nun ist der Stab über mich gebrochen, meinst
du, Söhnchen? Nicht wahr? Mitnichten, mitnichten,
nun bin ich frei — frei — frei — heisa frei! — Nun bau' ich keine Geigen mehr, keine Geigen mehr!
Heisa, keine Geigen mehr. (Theodor will abtreten vom Podest)
Bleiben Sie, Herr Studiosus, halten Sie diese
Ausbrüche des Schmerzes, der mich mit Todesmartern zerreißt, nicht für
Wahnsinn, aber es geschieht nur alles deshalb, weil ich mir vor einiger Zeit
einen Schlafrock anfertigte, in dem ich
aussehen wollte wie das Schicksal oder wie Gott!' (sinkt erschöpft
zusammen, ab)
Theodor (tritt ab vom Podest): Der Rat schwatzte tolles grauliches
Zeug durcheinander, bis er ganz erschöpft zusammensank; auf mein Rufen kam die
alte Haushälterin herbei, und ich war froh, als ich mich nur wieder im Freien befand.
Nicht einen Augenblick zweifelte ich daran, dass Krespel wahnsinnig geworden.
Der Professor behauptete jedoch das
Gegenteil.
Professor
Michel (auf dem
Podest): Es gibt
Menschen, denen die Natur oder ein
besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der wir andern unser tolles Wesen
unbemerkter treiben. Sie gleichen dünngehäuteten Insekten, die im regen,
sichtbaren Muskelspiel missgestaltet erscheinen, ungeachtet sich alles bald
wieder in die gehörige Form fügt. Was bei uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel
alles zur Tat. Den bittern Hohn, wie der in das irdische Tun und Treiben
eingeschachtete Geist ihn wohl oft bei der Hand hat, führt Krespel aus in
tollen Gebärden und geschickten Hasensprüngen. Das ist aber sein Blitzableiter.
Was aus der Erde steigt, gibt er wieder der Erde, aber das Göttliche weiß er zu
bewahren; und so steht es mit seinem innern Bewusstsein recht gut, glaub' ich,
unerachtet der scheinbaren, nach außen herausspringenden Tollheit. Antoniens
plötzlicher Tod mag freilich schwer auf ihn lasten, aber ich wette, dass der
Rat schon morgen seinen Eselstritt im gewöhnlichen Geleise weiter forttrabt. (tritt
ab)
Theodor: Es geschah so, wie der Professor vorausgesagt. Der Rat schien
andern Tages ganz der vorige, nur erklärte er, dass er niemals mehr Violinen
bauen und auch auf keiner jemals mehr spielen wolle. Des Professors Andeutungen
bestärkten meine innere Überzeugung, dass das so sorgfältig verschwiegene
Verhältnis Antoniens zum Rat, ja dass selbst ihr Tod eine schwer auf ihn
lastende, nicht abzubüßende Schuld sein könne. Nicht wollte ich Heilbronn
verlassen, ohne ihm das Verbrechen, welches
ich ahnte, vorzuhalten; ich wollte ihn bis ins Innerste hinein
erschüttern und so das offene Geständnis der grässlichen Tat erzwingen. Je mehr
ich der Sache nachdachte, desto klarer wurde es mir, dass Krespel ein Bösewicht sein müsse. So
gerüstet und ganz erhitzt, lief ich zu dem Rat. Ich fand ihn, wie er mit sehr
ruhiger lächelnder Miene Spielsachen drechselte. (tritt zum Podest, bitter
vorwurfsvoll) Wie kann nur auf einen Augenblick Frieden in Ihre Seele
kommen, da der Gedanke an die grässliche Tat Sie mit Schlangenbissen peinigen
muss?
Krespel (auf dem Podest, verwundert, den Meißel beiseite legend): Wieso, mein Bester? Setzen Sie
sich doch gefälligst auf jenen Stuhl!
Theodor: Sie haben Antonie ermordet! Als längst eingeweihte Justizperson,
erfüllt von meinem Beruf, versichere ich, dass ich alles (während der
Anklage langsamer und immer weniger überzeugt) anwenden werde, der Sache auf die Spur zu kommen und Sie dem
weltlichen Richter schon hienieden in die Hände zu liefern!
Krespel (mit feierlichem Tone):
Junger Mensch! Du magst mich für närrisch, für wahnsinnig halten, das verzeihe ich dir, da wir beide in
demselben Irrenhause eingesperrt sind, und Du mich darüber, dass ich
Gott der Vater zu sein wähne, nur deshalb schiltst, weil du dich für Gott den
Sohn hältst; wie magst du dich aber unterfangen,
in ein Leben eindringen zu wollen, seine geheimsten Fäden erfassend, das dir
fremd blieb und bleiben musste? Sie
ist dahin und das Geheimnis gelöst!
Theodor (kleinlaut): Bitte, bitte, klären Sie mich auf!
Krespel: Setzen Sie sich! (reicht ihm einen Stuhl)
Theodor (setzt sich): Danke!
Krespel: Vor zwanzig Jahren trieb mich die bis zur Leidenschaft gesteigerte
Liebhaberei, die besten Geigen alter Meister aufzusuchen und zu kaufen, nach
Italien. In Venedig hörte ich die berühmte
Sängerin Angela, welche damals auf dem Theatro di Benedetto in den
ersten Rollen glänzte. Ich suchte ihre Bekanntschaft, und trotz meiner
Schroffheit gelang es mir, vorzüglich durch mein keckes und dabei höchst ausdrucksvolles Violinspiel, sie ganz für mich zu
gewinnen. Das Verhältnis führte in wenigen Wochen zur Heirat, die
deshalb verborgen blieb, weil Angela sich weder vom Theater, noch von dem
Namen, der die berühmte Sängerin bezeichnete, trennen oder ihm auch nur das übeltönende ,Krespel' hinzufügen wollte. Aber aller
Eigensinn, alles launische Wesen sämtlicher erster Sängerinnen der Welt war in
Angelas kleine Figur hineingebannt worden. Eines Tages riss sie mir die Geige
aus der Hand und zerschlug sie an einem Marmortisch in tausend Stücke. Ich
erstarrte zur Bildsäule, dann aber, wie aus dem Traume erwacht, fasste ich
Signora, warf sie durch das Fenster ihres eigenen Landhauses und floh, ohne
mich weiter um etwas zu bekümmern, nach Venedig und von da nach Deutschland
zurück.
Theodor: Und Antonie?
Krespel: Erst nach einiger Zeit wurde mir recht deutlich, was ich getan;
obschon ich wusste, dass die Höhe des Fensters vom Boden kaum fünf Fuß betrug.
Ich fühlte mich von peinlicher Unruhe gequält, um so
mehr, da Signora mir kurz vorher nicht undeutlich zu verstehen gegeben hatte,
dass sie guter Hoffnung sei.
Theodor: Antonie!
Krespel: Ich wagte kaum, Erkundigungen einzuziehen. Nicht wenig
überraschte mich, als ich nach ungefähr acht Monaten einen gar zärtlichen Brief
von der Gattin erhielt, worin sie jenes Vorganges im Landhause mit keiner Silbe
erwähnte, und der Nachricht, dass sie von einem herzallerliebsten Töchterchen
entbunden, die herzlichste Bitte hinzufügte, dass der Marito amato e padre
felicissimo doch nur gleich nach Venedig kommen möge.
Theodor: Sie eilten?
Krespel: Ich erkundigte mich vielmehr bei einem vertrauten Freunde nach
den näheren Umständen und erfuhr, dass Signora nach meiner heroischen Tat wie
umgewandelt sei; von Launen, närrischen Einfällen, von irgendeiner Quälerei
ließe sie durchaus nichts mehr verspüren. Der Freund meinte, es sei ratsam,
sorgfältig zu verschweigen, wie Angela kuriert worden, da sonst jedes Tages
Sängerinnen durch die Fenster fliegen würden! Ich wähnte, ist's
denn nicht ausgemacht, dass, sobald ich mich blicken lasse, der böse Geist
wieder Kraft und Macht erhält über Angela? Ich blieb in Deutschland. Der Briefwechsel dauerte fort. Versicherungen
der Liebe — Einladungen — Klagen über die
Abwesenheit der Geliebten — verfehlte Wünsche — Hoffnungen u. s. w.
Endlich kam Angela nach Deutschland
und glänzte als Primadonna auf dem großen Theater in Frankfurt. Ihre Stimme
hatte nicht im mindesten verloren. Antonie war
indessen herangewachsen, und Angela schrieb, wie in Antonie eine Sängerin vom
ersten Range aufblühe.
Theodor: Sie haben sie nie besucht?
Krespel: Sie werden von dem
hoffnungsvollen jungen Komponisten Belli in Frankfurt gehört haben...
Theodor: Nein.
Krespel: Belli verliebte
sich in Antonien so sehr, dass er, da Antonie
seine Liebe recht herzlich erwiderte, der Mutter anlag, doch nur gleich
in eine Verbindung zu willigen, die die Kunst heilige. Angela hatte nichts
dagegen, und ich stimmte bei, weil des jungen Meisters Kompositionen vor meinem strengen Richterstuhl Gnade gefunden. Ich glaubte, Nachricht von
der vollzogenen Heirat zu erhalten, statt derselben kam ein schwarz gesiegelter
Brief, von fremder Hand überschrieben. Der Doktor Rau meldete mir, dass Angela
an den Folgen einer Erkältung im Theater heftig erkrankt und gerade in der
Nacht, als am andern Tage Antonie getraut werden sollen, gestorben sei. Ihm, dem Doktor, habe Angela entdeckt,
dass sie meine Frau und Antonie meine Tochter sei; ich möge daher eilen, mich
der Verlassenen anzunehmen.
Theodor: Sie holten Ihre Tochter nach Heilbronn!
Krespel: Noch denselben Tag reiste ich nach Frankfurt. Herzzerreißend, als
ich Antonie sah. Alle Liebenswürdigkeit,
alle Anmut Angelas war Antonie zuteil geworden, aber die hässliche Kehrseite
fehlte ganz. Der junge Bräutigam fand sich
ein, Antonie, mit zartem Sinn den wunderlichen Vater im tiefsten Innern
richtig auffassend, sang eine jener Motetten des alten Padre Martini, von denen
sie wusste, dass Angela sie mir in der höchsten Blüte ihrer Liebeszeit
unaufhörlich vorsingen müssen. Der Klang von
Antoniens Stimme war ganz eigentümlich und seltsam, oft dem Hauch der
Äolsharfe, oft dem Schmettern der Nachtigall gleichend. Die Töne schienen nicht
Raum haben zu können in der menschlichen Brust. Antonie, vor Freude und Liebe glühend, sang und sang alle ihre
schönsten Lieder, und der Bräutigam spielte, wie es nur die wonnetrunkene
Begeisterung vermag. Ich schwamm in Entzücken, da sah ich zwei dunkelrote
Flecke auf Antonies Wangen. Ich sprang auf, drückte Antonie an meine Brust und
bat: ,Nicht mehr singen,
wenn du mich liebst — es drückt mir das Herz ab — die Angst — die Angst — Nicht mehr singen!'
Theodor (bestürzt): Wie das?
Krespel: Der Doktor hatte mich eingeweiht...
Doktor
Rau (tritt
aus dem Dunkel): Mag sein, dass es von zu früher Anstrengung im Singen herrührt,
oder die Natur hat es verschuldet, genug, Antonie leidet an einem organischen
Fehler in der Brust, der eben ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den
seltsamen, ich möchte sagen, über die Sphäre des menschlichen Gesanges
hinaustönenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon, denn
singt sie fort, so gebe ich ihr noch
höchstens sechs Monate Zeit. (tritt ins Dunkel ab)
Krespel: Mein Entschluss war gefasst. Ich sagte Antonie alles, stellte ihr
die Wahl, ob sie dem Bräutigam folgen und seiner und der Welt Verlockung
nachgeben, so aber früh untergehen, oder ob sie dem Vater noch in seinen alten
Tagen nie gefühlte Ruhe und Freude bereiten, so aber noch jahrelang leben
wolle.
Theodor: Sie sang nicht mehr?
Krespel: Ich verschwand mit Antonie aus Frankfurt. Verzweifelt vernahm ihr
Bräutigam unsere Abreise. Er verfolgte die Spur, holte uns ein und kam zugleich
mit uns nach Heilbronn.
Antonie (im Hintergrund, flehentlich): Nur einmal ihn sehen und
dann sterben!
Krespel (in wildem Zorn): Sterben? Sterben? (sich
wieder Theodor zuwendend, dumpf) Sollte das Entsetzliche geschehen.
Belli musste an den Flügel, Antonie
sang, ich spielte die Geige, bis sich jene roten Flecke auf Antonies Wangen
zeigten. Da befahl ich einzuhalten. Als nun aber Belli Abschied nahm von Antonie, sank sie plötzlich mit einem
lauten Schrei zusammen. Ich glaubte, sie wäre tot und blieb sehr gelassen und
mit mir einig. Ich fasste Belli bei den Schultern (packt eine Gestalt im
Dämmerlicht, grimmig). Da Sie, verehrungswürdigster
Klaviermeister, wie Sie gewollt und gewünscht, Ihre liebe Braut wirklich
ermordet haben, so können Sie nun ruhig abgehen, es wäre denn, Sie wollten so
lange gütigst verziehen, bis ich Ihnen den blanken Hirschfänger durch das Herz renne, damit so meine Tochter, die,
wie Sie sehen, ziemlich verblasst, einige Couleur bekomme durch Ihr sehr wertes
Blut. Rennen Sie nur geschwind, aber ich
könnte Ihnen auch ein flinkes Messerchen nachwerfen! (Entsetzensschrei
der Gestalt, die im Dunkel verschwindet) Ich muss wohl bei diesen Worten
etwas graulich ausgesehen haben; denn mit einem Schrei des tiefsten Entsetzens
sprang er, sich von mir losreißend, fort durch die Türe, die Treppe hinab.
Theodor: Das war dieser denkwürdige Abend, an dem auch ich Antonie hatte
singen hören! Sie lebte!
Krespel (nickt bedächtig): Sie
schmiegte sich fortan mit der innigsten kindlichsten Liebe an mich; ging ein in meine Lieblingsneigungen, in meine tollen
Launen und Einfälle. Sie half mir alte Geigen auseinanderlegen und neue
zusammenleimen.
Antonie: Ich will nicht mehr singen, aber für dich leben!
Krespel: Als ich jene wunderbare Geige, die ich dann mit Antonie begrub,
zerlegen wollte, blickte mich Antonie sehr wehmütig an und sprach leise...
Antonie: Auch diese?
Krespel: Ich weiß nicht, welche unbekannte Macht mich nötigte, die Geige
unzerschnitten zu lassen und darauf zu spielen. Kaum hatte ich die ersten Töne
angestrichen, als Antonie laut und freudig rief:
Antonie: Ach, das bin ich ja — ich singe
ja wieder.
Krespel: Wirklich hatten die silberhellen Glockentöne des Instruments etwas ganz eigenes Wundervolles, sie schienen
in der menschlichen Brust erzeugt. Ich spielte wohl herrlicher als jemals. Und
wenn ich in kühnen Gängen mit voller Kraft, mit tiefem Ausdruck auf- und
niederstieg, dann schlug Antonie die Hände zusammen und rief entzückt:
Antonie: Ach, das habe ich gut gemacht! Das habe ich gut gemacht!
Krespel: Seit dieser Zeit kam eine große Ruhe und Heiterkeit in ihr Leben.
Oft sprach sie mir:
Antonie: Ich möchte wohl etwas singen, Vater!
Krespel: Dann nahm ich die Geige von der Wand und spielte Antoniens
schönste Lieder, sie war recht aus dem Herzen froh. Eines
Nachts aber war mir so, als höre ich im Nebenzimmer auf meinem Pianoforte
spielen, und bald unterschied ich deutlich, dass Belli nach gewöhnlicher Art
präludierte. Ich wollte aufstehen, aber wie eine schwere Last lag es auf mir,
wie mit eisernen Banden gefesselt vermochte ich mich nicht zu regen und zu
rühren. Nun fiel Antonie ein in leisen hingehauchten Tönen, die immer steigend
und steigend zum schmetternden Fortissimo wurden, dann gestalteten sich die
wunderbaren Laute zu dem tief ergreifenden Liede, welches Belli einst ganz im
frommen Stil der alten Meister für Antonie komponiert hatte. Eine entsetzliche Angst paarte sich mit nie gefühlter
Wonne. Plötzlich erblickte ich Belli
und Antonie, die sich umschlungen hielten und sich voll seligem
Entzücken anschauten. Ich fiel in eine Art dumpfer Ohnmacht, in der das Bild
mit den Tönen versank. Als ich erwachte, war jene fürchterliche Angst aus dem
Traume geblieben. Ich sprang in Antonies
Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen. Sie war tot. (verschwindet
im Dunkel)