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Der wilde Mann

 

Lustspiel von Gerhard A. Ebert

 

 

 

 

 

1.   Aufzug

 

Mitternacht. Mondschein. Eine ferne Turmuhr schlägt zwölf. Die Verandatür wird leise geöffnet, Peter huscht herein, ein hübscher, liebenswürdiger, salopp gekleideter junger Mann von knapp achtzehn Jahren mit respektlosen Manieren und von geradezu sträflicher Unbekümmertheit. Jetzt winkt er die zögernde Ursel herein und schließt die Tür. Beide lauschen gespannt. Ursel ist eine anmutige, schlanke Person, kaum achtzehn Jahre, zuversichtlich und selbstsicher, burschikos gekleidet, kurz geschnittenes Haar. Jetzt schaut sie sich sachlich und durchaus auch weiblich-neugierig um. Eine Kuckucksuhr irgendwo im Hause schlägt immer langsamer werdend, kommt bis sechs, dann bleibt sie stehen.

 

Ursel leise: Ich geh doch besser!

Peter: Warte! tritt an die Schlafzimmertür und lauscht

Ursel: Schnarcht er?

Peter schaltet das Licht ein: Nur wenn er im Bett liegt! lümmelt sich in einen Sessel

Ursel: Und deine Mutter?

Peter: Bei Großmutter. Eine Stunde mit dem Auto! schaut auf die Uhr Wenn sie schnell fährt. Macht sie nachts nicht. rekelt sich im Sessel Setz dich doch!

Ursel schaut sich um: Bist du oft allein?

Peter: Selten! Gibt’s keine Senioren-Clubs, wohin wir sie schicken könnten?

Ursel: Wir haben einen Heim-Club. Mama strickt, Papa bastelt Indianer-Kostüme.

Peter: Was für Zeug?

Ursel: Sein Hobby. Praktische Völkerkunde, sagt er. Da kann er stundenlang sitzen.

Peter: Wir brauchten was, setzt sich zu ihr wo sie nicht zu Hause hocken!

Ursel: Gibt’s! Alles mögliche! Wir vom Museum haben zum Beispiel Kontakt zu einer richtigen Indianer-Truppe. Ganz lustig, ich war mal da. Mit Tipis, Skalp und Lasso, ganz zünftig. Die Squaws machen auch mit. lacht Wäre das nichts?

Peter: Indianer spielen? Nicht übel. Leider hat mein Erzeuger schon ein Hobby: seinen Garten. Da hat er die Regenwürmer dressiert. Alles Heimarbeit! Und dann stellt er seine Erfahrungen auch noch ins Internet.

Ursel: Also nichts zu machen.

Peter: Kein Platz für Liebe! wird zudringlich

Ursel: ! entzieht sich, macht eine ungeschickte Bewegung, stößt die große Vase um Huch!

Peter packt Ursel geistesgegenwärtig: Hier hoch! schiebt sie auf die Treppe, postiert sich sichernd davor

Ursel: Ich denk, ist keiner zu Hause?

Peter hebt beschwörend die Hände als wie: man kann nie wissen! Die Kuckucksuhr schlägt langsam und quälend ein letztes Kuckuck. Stille

Ursel: Und was soll ich hier oben?

Peter: Meine Strümpfe stopfen!

Ursel verschmitzt: Wie lange kennen wir uns?

Peter: Elend lange!

Ursel: Moment! tut so, als denke sie nach

Peter vorwurfsvoll: Seitdem ich zur Schauspielgruppe komme.

Ursel: Richtig! Eins, zwei, drei Wochen! Hat’s noch Zeit mit den Strümpfen! kommt herunter, will ab. Draußen fährt ein Auto vor

Peter: Mein Alter! Los, hoch! eilt voraus zur Treppe

Ursel kokett: Ah, Schwiegervater!

Peter verdrossen: Ja, ja, Schwiegervater!

Ursel: Ist er nett?

Peter: Mann, er darf uns nicht sehen!

Ursel: Wie soll ich denn das verstehen?

Peter: Komm, schnell! Ich erklär dir’s!

Ursel: Unbedingt! Das Auto fährt davon

Peter: Mann, die hatten eine Taxe! Schnell! huscht mit Ursel nach oben, kommt noch einmal herunter, löscht das Licht, will flugs zurück

Paul und Helga treten ein. Paul ist ein stattlicher, wohlbeleibter Mann von knapp 50 Jahren, solid gekleidet, selbstbewusst und bestimmt im Auftreten und oft gleichsam in Chef-Anweisungen sprechend, dabei durchaus umgänglich und empfindsam. Im Moment würgt ihn ein arger Groll. Helga weiß das und stellt sich geflissentlich darauf ein. Sie ist eine Frau von etwas über vierzig, vollschlank und attraktiv, ihre Schönheit ist offenkundig, wenngleich gar nicht gepflegt und vom Einerlei der Ehejahre deutlich gezeichnet. Wie oft ausgesprochen schöne Frauen hat auch sie sich nie in besondere geistige Unkosten gestürzt. Ihr Temperament, auf das sie sich im vierten Aufzug besinnen wird, ist im Moment nur zu vermuten, also gezügelt angesichts eines einst abgöttisch geliebten Gatten, der daraufhin das Regiment an- und nie wieder abgetreten hat, zumal er als Besitzer einer Großbäckerei zu kommandieren versteht. Helga zeigt eine gewisse nachsichtig-kluge Ergebenheit, obgleich ihr gelegentliches Aufbegehren das kommende Furioso ahnen lässt.

Jetzt sind sie also eingetreten, die Eltern, und der Sohn huscht vor ihren Augen die Treppe hoch.

Peter verstört: Ah, gute Nacht! verschwindet mit Schwung die Treppe hoch.

Paul und Helga schauen verblüfft hinter ihrem Sohn drein.

Helga konsterniert: Verstehst du das?

Paul gewichtig, keinen Widerspruch duldend: Peter! Peter!

Peter erscheint auf dem Treppenabsatz, borstig: Ja?

Paul scharf: Ist was?

Peter: Die Vase ist umgefallen!

Helga bemerkt nun erst die Vase: Wann endlich wirst du dich daran gewöhnen, dass hier eine Vase steht! stellt die Vase wieder auf

Paul: Wisch gefälligst auf!

Peter borstig: Schon gut!

Paul erregt: Trottel!

Peter: He! Etwas mehr Kultur, Kollege! ab in die Küche

Paul steht wie vom Donner gerührt, schaut seinem Sohn entgeistert nach, brüllt: Fängst du auch schon an, du Rotznase?

Helga beschwichtigend: Paul!

Paul ist nicht zu halten: Da schuftet man Tag für Tag, meistert die Probleme, haut die klapprige Technik raus, automatisiert die Produktion...

Helga gütig: Paul!

Paul: ...erwirtschaftet Gewinn, kriegt Lob in der Presse, sogar im Fachorgan, im Fachorgan, verstehst du, was das heißt, im Fachorgan, und dann auf einmal: kein Kultur!

Peter kommt aus der Küche zurück, wischt auf, erbarmungslos: Biste kritisiert worden?

Helga vorwurfsvoll: Junge!

Paul: Lass ihn nur! Lass ihn! So weit kommt das! Die Grünschnäbel fallen über die Fachleute her! Über die eigenen Eltern! Altes Eisen! Abtreten! Und so weiter und so fort. Aber nicht bei mir! Penneberg steht wie eine eins! Das merke dir!

Peter: Na, dann gute Nacht, Vati! huscht die Treppe hoch

Paul: Wie? eh, gute Nacht!

Helga: Komm auch ins Bett, Paul!

Paul brummig: Ja, ja! zerstreut, beiläufig Was Neues bei Mutter?

Helga sanft: Nein, nichts! War übrigens nett, dass du mich abgeholt hast.

Paul kommt wieder in Rage: Ich sage dir, ich konkurrier die im Center nieder, dass die Wände wackeln! Ha! Schon ganz andere Dinger gedreht! Kommen die auf die Idee, in ihrem Kaufhaus auch noch frische Brötchen zu backen! Mir vor der Nase! Mir vor der Nase! Das muss man sich mal vorstellen! Die wissen doch, dass ich da meine Verkaufsstelle habe. Steht doch groß genug dran! Penneberg! Ich hau sie in die Pfanne! Eine Idee muss ich haben. Eine große Idee! Nicht so bloß Brimborium!

Helga fügsam: Ich geh dann ins Bett inzwischen.

Paul beiläufig: Ja, ja, schlaf gut!

Helga: Und lösch das Licht aus! ab

Paul unvermindert heftig: Und dann nörgelt die Gewerkschaft auch noch an der Kultur herum. Keine Kultur im Betrieb. Kultur! Hat das was mit Brötchen zu tun? Na? Natürlich nicht1 Höchstens was mit Backkunst! Sprechen wir nicht darüber! Das zieht hoch wie ein Gewitter! Aus heiterem Himmel! Erst denkt man, so schlimm wird’s nicht werden, und dann kommt alles auf einmal! Wumm! Ohne Kultur keine Brötchen, sozusagen! Na Mahlzeit!

Peter erscheint auf der Treppe: Also wenn du jetzt deine Chef-Rede ausarbeitest, geh bitte in die Erdbeeren!

Paul brüllt: Raus!!

Peter trocken: Ich kann nämlich nicht schlafen! ab

Helga erscheint im Nachthemd, vorwurfsvoll: Paul, morgen ist die Nacht um!

Paul brüllt: Rau...!! sanft Ich komme!

Helga: Und lösch das Licht aus! ab

Paul unvermindert heftig: Hier sind zügige Entscheidungen fällig! Das Problem wird grundsätzlich nach vorn gelöst! Etwas Großes muss zupackend der Konkurrenz vor die Nase gesetzt werden! Überzeugend, einmalig! Und die ganze Belegschaft wird eingeschworen! Wie die Japaner das machen! Alle antreten früh morgens und die Penneberg-Hymne singen! Das wär mal was! Das könnten die auch im Center machen, in der Verkaufsstelle! Sollst mal sehen, wie die Käufer strömen! Und wer sich sträubt, fliegt! Im hohen Bogen!

Helga in der Tür, gütig: Paul!

Paul ärgerlich: Immer störst du mich bei meinen wichtigsten Gedanken! Schließlich muss ich mir was ausdenken! Die Konkurrenz schläft nicht! Und mit der Kultur bin ich auch im Rückstand! Behauptet die Gewerkschaft! Stell dir vor, die Gewerkschaft! Wo die sich überall einmischen! Zehn Jahre Rückstand, sagen sie!

Helga: Da kommt es auf eine Nacht auch nicht mehr an.

Paul unvermittelt vorwurfsvoll: Hier, kein Bild an der Wand!

Helga müde: Ja, ja! ab

Paul: Eine Idee müsste man haben! löscht das Licht Eine, die alles herausreißt! ab ins Schlafzimmer

Ursel schleicht vorsichtig die Treppe herunter

Peter kommt hier ihr her, flüstert: Bleib doch! Bitte!

Ursel leise: Bin nicht dein Betthäschen!

Peter: Unsinn! Sei nicht so zimperlich!

Ursel sucht die Verandatür: Schlaf gut!

Peter: Wenn du nicht bleibst, ist alles aus! will sie nicht hinauslassen, Gerangel, dadurch fällt die Vase um Mist verdammter! Ursel huscht hinaus

Paul erscheint im Nachthemd: Ist da jemand?

Peter bissig: Im Gegenteil!

Paul: Du?

Peter missmutig: Wollt nur mal sehen, warum die Vase wieder umgefallen ist.

Paul macht Licht, konsterniert: Was ist los?

Peter stellt die Vase auf: Schon gut!

Paul schaut von der Treppe zur Verandatür und zurück, ahnungsvoll: Junge, hast du... ich meine, wenn du verstehst, was ich meine, ist da, war da... ein Weib... und so weiter und so fort?

Peter tut sehr verständnislos: Ein was?

Paul aufgelöst: Junge, Keine Kinder! korrigiert sich Eh, noch nicht, klar? Noch nicht! Am besten: nur mit Pille! Verstehst du? Verstehst du?

Peter trocken: Vollkommen!

Paul: Verzeih mir, dass ich dich nie aufgeklärt habe!

Peter: Ja, ja!

Paul betont väterlich: Junge, jetzt setz dich! Ein paar ernsthafte Worte vom Vater zum Sohn!

Peter borstig: Ich weiß, wie’s gemacht wird!

Paul: Wie? Eh, setz dich! setzt sich Also pass auf! Wenn du mal, irgendwie mal, also, ich meine, verstehst du, so... Nun setz dich doch!

Peter: Bin müde. setzt sich

Paul: Ich meine, also immerhin, nicht wahr, so mal schnackeln, na gut! Ja? Alles klar! Aber bring mir hier nicht irgendeine geschleppt! Sozusagen!

Peter: Ich heirate nie!

Paul: Das sagt sich leicht in deinem Alter!

Peter: Deine muffige Ehe genügt mir!

Paul verblüfft: Was? Muffig?

Peter fängt sich: Ich meine... versucht abzulenken, unvermittelt Ärger gehabt?

Paul hartnäckig: Was ist mit meiner Ehe? Hm? Heraus damit! Ich vertrag viel, mein Junge, viel!

Peter: Vielleicht bin ich ungerecht.

Paul: Das möchte ich meinen!

Peter: Du hast Ärger! Spür ich doch! Im Betrieb?

Paul: Ach, wie immer! Alles kommt auf einmal!

Peter: Warst ja mächtig in Fahrt!

Paul bitter: Die Konkurrenz schnappt mir die Kunden weg! zerknirscht Und dann kommt auch noch die Gewerkschaft und behauptet, ich hätte nichts übrig für die Kultur! unvermittelt Hast du keine Idee?

Peter: Eine Idee? Was für eine Idee? Wie komme ich dazu?

Paul: Ich hab doch keine Ahnung von Kultur! Du willst Faxenmacher werden! Na bitte!

Peter: Tj, so mitten in der Nacht!

Paul: Ich brauch etwas Großes! Verstehst du? Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Peter: Mann, hängst du ein paar Bilder auf. Hübsche Frauen oder so. Gibt’s Gebrummel, und dann ist es vergessen.

Paul: Ist doch kleinkariert, Mann! Kein Format! Wie hieß das im Osten? Überholen ohne einzuholen! Genau mein Problem. erinnert sich Und was ist mit meiner Ehe?

Peter in die Enge getrieben, unvermittelt: Ich glaub, ich hab’s!

Paul: Hm?

Peter: Ihr spielt Indianer!

Paul völlig verständnislos: Was??

Peter: Du gründest eine... zögert, dann suggestiv ...indianische Kulturgruppe!!

Paul: Also verrückt bin ich noch nicht, du!

Peter wendet sich beleidigt ab: Bitte, war ja auch nur ein Vorschlag!

Paul noch immer verständnislos: Wie kommst du denn auf so was? Indianer spielen. Ist doch für Kinder!

Peter: Denkste! Meine Kleine, eh, meine Bekannte, eh, da war mal eine, aber ich weiß noch genau, die hatte einen Onkel, weißt du, einen Onkel, und der spielte Indianer! Als Hobby!

Paul: Saublöd, was?

Peter: Indianer sind populär! Denk an die DEFA-Filme.

Paul: Ich weiß nicht.

Peter: Stell dir doch mal vor: Dein Betrieb bäckt Indianer-Brot! Original Indianer-Brot! Wer kann das schon kontrollieren. Aber du eroberst den Markt! Bist Spitze im Center!

Paul wehmütig: Hm, schön wär’s!

Peter: Und ein kulturelles Bonbon! Kannst du deine Gruppe sogar zur Werbung aufmarschieren lassen. Werbung ist alles! Rothäute fallen auf, das sag ich dir!

Paul nachdenklich: Was Originelles hat’s! Doch, doch! Gebe ich zu.

Peter: Du kannst dich ja mal beim Center erkundigen, bei den Bossen da, ob sie so was genehmigen. gähnt demonstrativ

Paul: Damit die meine Idee aufgreifen? Nee, mein Junge, wenn ich eine Sache anfasse, dann richtig! Hm, man müsste mal mit dem Onkel verhandeln!

Peter müde: Mit welchem Onkel?

Paul: Na mit dieser Hobby-Rothaut!

Peter beflissen: Ah ja richtig!

Paul: Bisschen Erfahrungsaustausch und so weiter und so fort.

Peter steht müde auf: Das könnte ich dir vielleicht vermitteln!

Paul: Ja, könntest du?

Helga aus dem Schlafzimmer: Paul, morgen ist die Nacht um!

Paul: Ich komme! zu Peter Und was treiben die so, die Indianer?

Peter an der Treppe, müde: Genau weiß ich das auch nicht. Sport und Spiel vermutlich, völkerkundliche Studien und so’n Zeug! will ab

Paul wieder unsicher: Tja, ob das ergiebig ist... so eine indianische Dingsda... Kultgruppe?

Peter ungeduldig, verschmitzt: Das hängt von dir ab. Am besten, du machst selbst mit!

Paul: Das sowieso! Wenn schon, denn schon! Der Boss geht immer voran! Merk dir das! Wenn du mal Chef wirst bei den Faxenmachern!

Peter verschmitzt: Dann trainier mal schon so’n paar sportliche Übungen! macht kurz eine Übung vor, will ab

Paul: Muss das sein?

Peter schwätzt nun auf Teufel komm raus: Rothäute sind agile Leute!

Paul erschrocken: Mann, daran hab ich ja noch gar nicht gedacht! Ob man da mit `ner roten Socke verwechselt wird?

Peter: Musst ja keine anziehen!

Paul: Richtig!

Peter: Ist ganz unpolitisch!

Paul: Genau! Und wenn dieser Onkel hört, dass sich ein Boss interessiert, schlägt er Purzelbäume.

Peter will ab: Na dann gute Nacht!

Paul: Gute Nacht! Ah, du! mit Wink zum Schlafzimmer Erst mal Top Secret, klar!

Peter: Streng vertraulich! Klar! He! kommt zurück, dreist Eh ich’s vergesse: leise Du solltest dir Großmutters Zopf beschaffen!

Paul: Irmas Zotteln?

Peter: Als Skalp! Wenn du einen hast, außer deinen eigenen, bist du bestimmt schon halb anerkannt!

Paul: Ah, verstehe! Hahaha! Toll! macht Indianertanz, schlägt mit der flachen Hand gegen den Mund Wa, wa, wa, wa, wa...!!

Helga im Nachthemd in der Tür: Na sag mal: Bei dir piepst’s wohl?

Die ferne Turmuhr schlägt ein Uhr

 

-  Vorhang  -

 

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