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                                               Flaggenwechsel

                                               Schauspiel in 3 Akten von Gerhard A. Ebert

 

 

 

 

 

2. AKT

Bühne wie im 1. Akt. Die weiße Fahne am Fenster des Hauses gegenüber ist verschwunden.

 

 

1. Szene

Mutter sitzt am Tisch, beim Frühstück: Was guckt ihr? Drückt den Deckel einer Fleischbüchse nachdrücklich zu:  Mehr ist nicht!

Sohn sitzt am Tisch, beim Frühstück: Hab aber noch Hunger!

Vater sitzt am Tisch, beim Frühstück: Hm! Ich auch!

Mutter: Vielleicht kommen mal bessere Zeiten.

Sohn: Ich habe aber jetzt Hunger!

Vater: Ich auch!

Mutter: Habt ihr den Verstand verloren? Brot ist nicht mehr! Das wisst ihr doch! Esst Kartoffeln zum Mittag! Da haben wir noch welche.

Vater: Na gut, hast ja recht! Knappes Frühstück! Hungern wir eben ein bisschen! Wenigstens gut geschlafen die Nacht!

Mutter: Ich auch. Zum Sohn: Und du? Räumt den Tisch ab.

Sohn: Es ging. War immer mal wach.

Vater: Komm, suchen wir mal die Granate. Steht auf, tritt zum Küchenschrank.

Sohn wendet sich einem Werkzeugkasten zu: Hab schon gestern Abend mal geguckt, durch die Wand ist sie nicht.

Vater: Ist ein Splitter, völlig klar!

Sohn entnimmt Schraubenzieher: Und wie kam der zu uns rein?

Vater: Hm! Bin kein Ballistiker. Das ist eben das Gefährliche! So eine Granate platzt in der Luft, und dann fliegen die Splitter kreuz und quer herum. Versucht, auf die Straße blickend, die Fluglinie des Splitters zu erkunden, der im Schrank eingeschlagen ist: Also, wie das aussieht, ist das Ding da drüben explodiert, überm Dach von Müllers.

Mutter Und hat uns alle Tassen kaputtgehauen!

Vater: Hätte viel schlimmer kommen können.

Sohn: Ich sehe was! Metall! Werkelt mit einem Schraubenzieher im Schrank herum: Steckt in der Wand!

Mutter: Durch den ganzen Schrank durch?

Vater: Ja, Mutter, so machen das Granatsplitter!

Sohn: Ist das so einer wie bei dir damals?

Vater: Wie soll ich das wissen?

Sohn: Und wie war das? Steckte der Splitter in deinem Fuß?

Vater: Nein!  Die Ferse hing herunter, und ich blutete wie ein Schwein!

Mutter: Ach, Vater, hör auf!

Sohn: Und  der Stiefel?

Vater: Auch zerfetzt!

Sohn hält ein: Also, den krieg ich jetzt nicht raus! Müssten wir den Schrank vorziehen!

Vater: Keine Eile, das erledigen wir im Frieden!

Sohn weist mit seinem Schraubenzieher nach draußen: Scheint ausgebrochen irgendwie der Frieden. Kein Schuss mehr!

Vater: Stimmt! Ruhe seit gestern. Keine Veränderung!

Sohn: Doch!

Vater: Ja? Was?

Sohn tritt zum Fenster: Müller drüben hat die weiße Fahne wieder hineingenommen.

Vater: Ah ja! Der Herr hat sich für den Endsieg entschieden. Kannst du nichts machen!

Mutter: SA-Uniform hat er schon lange nicht mehr angehabt!

Vater: Vergesst nicht, das ist einer von denen, die laut „Ja!“ geschrien haben, als Goebbels gebrüllt hat: „Wollt ihr den totalen Krieg?“

Sohn legt Schraubenzieher in Werkzeugkasten: Mann, als das im Radio kam, ist mir wirklich irgendwie mulmig geworden.

Vater: Jedem mit gesundem Menschenverstand ist es mulmig geworden!

Mutter versucht, von diesem Thema abzulenken: Ob die uns vergessen haben?

Sohn: Wer?

Mutter: Na, die Amis! Die mit ihren Panzern und ihren Jeeps, die könnten doch einfach kommen, und dann wär endlich Frieden!

Vater: Weiß auch nicht, was dahinter stecken könnte…

Mutter: Jedenfalls wär Frieden! Vielleicht noch nicht in Berlin, auch nicht in Chemnitz, aber für uns!

Vater schaut auf die Uhr:  Schon elf durch.

Fernes Brummen.

Sohn: Oh, hört ihr das?

Vater: Ja, hör ich!

Mutter: Bomber?

Vater: Bomber!

Mutter: In den Keller! Schnell! Will los.

Vater: Warte!

Mutter: Warten?

Vater: Keine Sirene!

Sohn erstaunt: Tatsache! Keine Sirene! Das ist ja ungeheuer! 

Mutter: Was kann das heißen?

Vater: Hm, das kann alles Mögliche heißen. Vermutlich drückt einfach keiner mehr auf den Knopf! Weil die Amis schon im Rathaus sitzen. Könnte auch heißen, dass es einfach keinen Bombenalarm mehr gibt, weil wir nicht mehr interessant sind hier in der Stadt.

Brummen wird allmählich lauter und kommt näher.

Mutter sehr beunruhigt: Bomber sind Bomber!

Vater: Hört mal! Hört mal genau hin! 

Sohn: Viele, was?

Vater: Genau! Das sind so viel, so viel brauchen die nicht für uns hier!

Mutter: Glaubst du?

Vater: Die fliegen weiter! Über uns weg oder vorbei!

Sohn: Mensch, habe ganz vergessen, die Meldungen einzuschalten! Mal hören, was los ist! tritt zum Radio, schaltet ein: Oh! Kein Strom!

Vater: Kein Strom? Schaltet Licht, Lampe brennt nicht. Heute Nacht war noch!

Mutter: Kein Wasser, kein Gas!

Vater: Kein Strom! Keine Sirene!

Mutter: Gott oh Gott!

Sohn: Haben die Amis den Strom abgedreht?

Vater: Keine Ahnung!

Mutter: Ist vielleicht doch jemand am Knopf! Er drückt, aber kein Strom.

Vater: Könnte sein. Kann aber auch sein, dass im E-Werk ein Defekt ist. Hat so ein Volkssturm-Idiot herum geschossen, und sie haben auch geschossen, und dabei hat’s eine Leitung zerrissen. Zum Beispiel.

Sohn: Hätte es da nicht gerumst irgendwie?

Vater: Eigentlich schon! Ist zwar ziemlich weit weg, aber Schießerei hätten wir wahrscheinlich gehört.

Das  bedrohliche Brummen kommt noch näher.

Sohn schaut zum Fenster hinaus, sehr überrascht: Ach, guck doch! Die Leute stehen auf der Straße und starren in den Himmel.

Vater schaut ebenfalls zum Himmel: Ja, na klar! Da drüben! Die ersten! Sieht bombastisch aus.

Mutter: Bombastisch?

Sohn: Oh, ja, und so kleine Flitzer ringsum!

Vater: Das sind die Jäger, die die Bomber schützen! Soll sich der Göring mal angucken!

Mutter: Fred, reg dich nicht auf jetzt!

Vater: Nicht aufregen? Zeigt in den Himmel: Bei dem Schauspiel?

Mutter: Ach, du weißt doch, was ich meine!

Sohn: Wir stehen hier und reden, und da kommen Bomber! Hunderte Bomber! Ich geh in den Keller! Ich habe Angst! Will  los.

Vater: Warte doch, Junge! Warte! Also, wenn die jetzt nicht noch eindrehen, dann fliegen die weiter! Das sieht man doch! In der Richtung, in die sie jetzt da oben ziehen, liegen wir doch nicht! Die fliegen vorbei!

Sohn: Chemnitz?

Vater: Könnte sein. Oder Dresden! Bei der Menge! Guck, da kommt schon der zweite Pulk.

Mutter: Die armen Menschen, die jetzt noch sterben müssen. Sinnlos!

Vater: Guck doch mal! Ist schon ein Schauspiel!

Sohn: Keine Christbäume!

Vater: Ich weiß auch nicht, wie die das machen am Tage.

Mutter: Ich muss an die unschuldigen Menschen denken! Tritt zum Fenster, überrascht: Oh, seht ihr das nicht?

Vater: Was?

Mutter zeigt nach unten auf die Straße: Brot! Die Leute kommen mit Brot!

Vater anerkennend: Mutter muss gucken!

Sohn: Benndorf hat gebacken?

Mutter: Sieht so aus!

Vater anerkennend: Der ist gut, der Benndorf! Der arbeitet. Zum Sohn: Los, hier, hast du Geld! Gibt ihm einen Geldschein. So lange wir noch was kriegen dafür.

Sohn erschrocken: Ich? Jetzt?

Vater: Na klar!

Sohn: Raus? Auf einmal?

Vater: Brauchen wir Brot?

Mutter: Wir habe noch, aber verkehrt wäre es nicht.

Vater: Flitz, Junge, eh‘s alle ist! Nimm, so viel du kriegen kannst!

Gedröhn der Bomber bedrohlich nahe.

Sohn: Und die Bomber?

Vater: Die haben ein anderes Ziel!

Sohn: Ma?

Mutter: Na, geh schon!

Sohn: Wie ihr wollt! Ab.

 

 

2. Szene

Mutter: Gott oh Gott! Hoffentlich geht das gut!

Vater: Es muss gut gehen! Es muss!

Mutter: Du hast immer gesagt: Jetzt keinen Fehler machen.

Vater: Sollte ich vielleicht gehen?

Mutter: Ich hätte auch holen können.

Vater: So was muss der Sohn erledigen. Dazu ist er alt genug!

Mutter: Ihr Männer! Bomber am Himmel, und du schickst deinen Sohn auf die Straße. Gott oh Gott!

Vater: Lass mir endlich den aus dem Spiel! Der hat nicht das Mindeste verhindert! Nicht das Mindeste! Schaut zum Himmel: Guck doch! Die fliegen eindeutig vorbei. Jetzt ist die Spitze schon da vorn. Und da hinten kommt der dritte Pulk!

Mutter schaut: Ungeheuerlich!  Wo wollen die denn hin mit den vielen Bomben?

Vater: Also, was die heute Nacht gesagt haben, wenn das stimmt, dann stehen die Russen kurz vor Dresden!

Mutter: Gott oh Gott!

Vater: Und ich vermute, ich vermute, die da oben, die Engländer oder die Amis, die fliegen jetzt und machen Dresden platt. Damit die Russen nicht zu viel Beute machen.

Mutter: Sind das nicht Verbündete?

Bomber-Gedröhn lässt ein wenig nach.

Vater: Noch! Noch ziehen sie gemeinsam gegen den Gröfaz.

Mutter: Sag sowas nicht, wenn Jörg dabei ist.

Vater: Warum nicht, Thea?  Hab gestern Abend wieder darüber nachgedacht. Ich glaub, es ist nicht gut, ihn immer noch auszulassen. Er muss langsam die Wahrheit erfahren.

Mutter: Gut! Bin ich einverstanden. Langsam!

Vater: Oder schnell. Ich weiß es nicht. Jedenfalls ein Glück, dass er nicht mitgehört hat heute Nacht. Die haben Dinge erzählt! Dinge! Aber irgendwie hat man es ja gewusst. Und früher oder später muss er es auch erfahren.

Mutter schaut runter zur Straße: Müsste eigentlich schon wiederkommen!

Vater: Wird eine Schlange sein. Muss er warten.

Mutter: Wenn jetzt die Panzer kommen.

Vater: Jetzt barm nicht rum!

Mutter: Und was haben sie erzählt?

Vater: Du glaubst es nicht! Die Amerikaner haben bei Weimar ein großes Konzentrationslager gefunden.

Mutter: Was für ein Lager?

Vater: Entsetzliche Dinge! Entsetzlich! Wenn du das hörst! Ich hatte Gänsehaut. Und ich habe genug erlebt.

Mutter schaut auf die Straße: Jetzt kommt er! Ach! Na, das ist ja! Dieser Bengel!

Vater schaut auch: Was ist? Ich sehe ihn nicht.

Mutter: Er ist rüber zum Platz!

Vater: Na klar, die Neugier! Jetzt will er das abgebrannte Haus sehen.

Mutter: Und den, wie heißt das Ami-Auto?

Vater: Jeep! Jeep heißt das!

Mutter: Will er sehen, der Lausbub! Eigentlich ein lieber Junge. Hoffentlich passiert nicht noch irgendwas.

Vater: Soll ich nach?

Mutter: Bleib mal lieber! Ich denke, wie soll ich das sagen, wenn wir ihn zu sehr gängeln, denk ich, verlieren wir ihn.

Vater: Hast du recht!

Mutter: Es ist nicht leicht für ihn.

Vater: So ist es! Er wird noch so Manches verkraften müssen!

Mutter: Konzentrationslager sagst du? Was ist das?

Vater: Schwer zu beschreiben. Wenn’s stimmt: Die Nazis haben zehntausende unschuldige Menschen in Lager gepfercht.

Mutter: Zehntausende?

Vater: Und umgebracht! Mit Gas! Wahrscheinlich sind es noch viel mehr.

Mutter: Das kam im Radio heute Nacht?

Vater:  Wenn das erst mal in der Wochenschau ist.

Mutter: Das kann man doch nicht zeigen.

Vater: Die Amerikaner haben Berge von Leichen gefunden! Bei Weimar! Stell dir vor: bei Weimar! Goethe würde sich im Grabe umdrehen. Und Schiller dazu!

Mutter: Na woanders wär’s auch ein Verbrechen!

Vater: Hast du recht! Mutter! Hast du recht!

Mutter: Was waren das für Leute? Kriegsgefangene?

Vater: Ja, wohl auch. Vor allem Juden! Juden! Und Kommunisten!

Mutter: Aus Russland?

Vater sehr gequält: Auch! Ja, glaub ich. Bei Berlin, bei Oranienburg, soll auch so ein Lager sein.

Mutter: Ich sag’s ja: Hände weg von der Politik!

Vater: Das sagst du so!

Mutter: Was hätten wir denn tun können? Nein, nein! Du hast schon genug riskiert mit deiner Ferse. Immer mit einem Bein im Gefängnis.

Vater: Ist nicht so einfach!

Bomber-Gedröhn klingt ab.

Mutter schaut auf die Straße: Jetzt kommt er!

Vater: Hat er was?

Mutter: Zwei Brote!

Vater: Mal sehen, was er erzählt!

Mutter: Nicht schimpfen!

Vater: Ja, ja!

 

 

3. Szene

Sohn stürmt mit zwei Broten herein: War vielleicht ein Gedränge! Hier, mehr gab es nicht. Legt zwei Brote und Geld auf den Küchentisch. Bleibt alles rationiert, sagt der Benndorf. Aber er will kein Mehl hamstern, sagt er.

Vater: Und sonst?

Sohn: Habt ihr gesehen? Ich war mal auf dem Platz!

Mutter: Hab’s gesehen!

Sohn: Der Schimmel-Wirt ist total abgebrannt. Sieht schaurig aus so eine Ruine. Qualmt immer noch.

Vater: Und der Jeep?

Sohn: Leergeräumt! Die Neger sind auch weg! Bloß noch ein Fuß in einem Schuh!

Mutter: Was?

Sohn: Mir wurde übel! Bin ich zurück!

Mutter: Das ist ja entsetzlich! Der arme Kerl!

Vater: Hat er hoffentlich nicht mehr viel gemerkt von.

Sohn: Die Erna muss ihn noch gesehen haben.

Mutter: Hat sie doch gesagt gestern!

Vater: Haben sie über Nacht ihre toten Kameraden geholt.

Sohn: Wahrscheinlich.

Vater: Krieg ich Gänsehaut!

Sohn: Total ruhig sonst! Die Bomber sind weg, du hattest recht. Essen wir was? Bisschen frisches Brot?

Mutter: Na eigentlich…

Sohn: Ach doch!

Vater: Na los! Wenn gerade Ruhe ist. Schaut zur Straße hinaus nach links und rechts. Sieht so aus, als ob noch weiße Fahnen dazu gekommen wären.

Sohn: Auf der Lungwitzstraße hängen auch welche. Aber auf dem Platz keine.

Vater: Die Leute trauen sich nicht. Schneidet Kanten Brot ab. Thea, gib die Büchse her.

Mutter: Diese Schlemmerei! Mitten im Krieg. Stellt den Männern die Büchse Fleisch auf den Tisch, setzt sich dazu.

Sohn greift sich einen Kanten Brot, gibt Fleisch aus der Büchse darauf: Beim Bäcker, also, die Leute, schade, dass kein Strom mehr da ist.

Vater: Kann er nicht mehr backen, was? Nimmt sich ebenfalls frisches Brot und Fleisch.

Sohn: Das meine ich nicht.

Mutter: Was meinst du? Nimmt sich ebenfalls frisches Brot und Fleisch.

Sohn: Die Leute haben so komisch getuschelt.

Mutter kauend: Was haben sie getuschelt?

Vater kauend: Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!

Sohn: Von einem Radio-Sender aus England. Zum Vater: Kennst du den?

Vater: Englisch verstehe ich nicht.

Sohn: Die senden in Deutsch!

Vater: Ach, in Deutsch? Ist ja toll!

Sohn: Geht immer mit Bumbumbumbum los! Mitten in der Nacht. Und dann kommen Nachrichten.

Mutter: Das erzählen die Leute?

Sohn: In der Schlange. Hab nicht alles gehört. Leider! Aber, ich denk, das ist einfach so ein Hetzsender. Vater und Mutter wechseln heimlich Blicke. Oder? Was denkt ihr?

Vater: Haben denn die Leute was verstanden?

Sohn: Ich glaube es nicht!

Vater: Dass die was verstanden haben?

Sohn: Was die in London sagen! Die Hetzer!

Mutter: Was sagen die denn?

Sohn: Angeblich, nein, ich glaube das nicht!

Vater: Nun sag schon!

Sohn: Sie sagen, hm, sie sagen, die Deutschen hätten Lager, ich weiß nicht, irgendwas mit Konzentration oder so, und da drin, in den Lagern, überall, hätten sie zehntausende Menschen umgebracht. Zehntausende! Unschuldige Menschen! Ist doch Hetze, oder?

Vater legt Brot und Messer ab, schneuzt sich.

Sohn bange: Du weißt was?

Vater: Hm!

Sohn: Weißt du was?

Vater langsam und bestimmt: Es ist keine Hetze, Jörg! 

Sohn sich aufbäumend: Aber der Führer hat es immer gesagt, die Engländer hetzen gegen uns.

Vater zeigt zum Ofen, grimmig: Der Führer ist seit gestern für immer da drin! Verstehst du?

Mutter: Fred!

Sohn: Es ist Hetze! Das haben die beim Bäcker auch gesagt!

Vater: Das glaub ich schon, dass die das auch gesagt haben. Sie wussten ja nicht, ob da einer hinter ihnen steht, der… na, der würde kaum noch Gelegenheit finden.

Sohn: Hörst du den Sender?

Vater knallhart: Jede Nacht!

Sohn verdattert: Jede Nacht?

Vater: Wenn Strom da ist.

Sohn: Ich durfte nicht!

Vater: Wir haben überlegt. Dann dachten wir, du bist noch nicht reif genug!

Mutter: Das musst du verstehen.

Vater: Hast ganz andere Probleme, dachten wir.

Sohn hellhörig: Was für andere Probleme?

Vater: Na, mit einer Freundin oder so! Ist doch Zeit, oder?

Sohn: Und du glaubst denen in London? Schaufelt sich Fleisch aus der Büchse.

Vater: Leider, leider hat bisher ziemlich gestimmt, was sie so gesagt haben.

Sohn: Alles Hetze!

Vater: Meine Junge, ich fürchte, du wirst es erleben!

Sohn: Was werde ich erleben?

Vater: Du wirst es hoffentlich erleben! Weil wir nicht noch umkommen im letzten Moment, hoffe ich.

Sohn aggressiv: Und was? Was bitte werde ich erleben?

Vater: Dass die Sieger Deutschland aufteilen.

Sohn: Aufteilen? 

Vater: Ja, ja! Aufteilen! In Besatzungszonen. Und die Völker, die unter den Deutschen gelitten haben, werden abgefunden.

Mutter: Abgefunden? Wie das denn? 

Vater: Wegen der Verbrechen der Deutschen. Die Franzosen kriegen die Saar, die Russen Königsberg und die Polen Schlesien, Ostpreußen und Pommern.

Mutter: Was?

Sohn: Das kann doch nicht wahr sein! Hält ein zu essen.

Vater: Außerdem kriegen die Russen Sachsen und Thüringen als Besatzungsgebiet. Können sie sich noch was holen.

Mutter: Die Russen kriegen Sachsen? Hast du mir nie erzählt.

Vater: Ja, ja! Ich hab’s ja auch nicht glauben wollen. Am Anfang. Aber die Meldungen kamen immer wieder. Andeutungen, Vermutungen. Es wird ein Abkommen geben. Churchill, Roosevelt und Stalin werden sich treffen und alles klar machen.

Sohn: Roosevelt? Ist der nicht tot?

Vater: Na dann eben sein Nachfolger. Ist doch schnuppe. Einer wie der andere.

Mutter: Das machen die alles unter sich aus?

Vater: Sie haben ja schon ein paar Konferenzen gemacht. Jalta oder was weiß ich.

Sohn: Und wir Deutschen?

Vater: Aus! Aus! Aus! Die Deutschen werden nicht mehr gefragt.

Sohn: Einfach so deutsche Gaue abtrennen?

Vater: Saarbrücken. Königsberg. Breslau. Danzig. Stettin.

Mutter: Gott oh Gott!

Sohn: Dann ist Deutschland ja kaputt!

Vater: Nicht ganz kaputt! Aber kleiner.

Sohn: Geht das denn?

Vater: Die werden das schon regeln.

Mutter: Na, ich weiß ja nicht.

Vater: Die Deutschen sind ja selber schuld!

Mutter: Verstehe ich nicht.

Vater redet sich in Rage: Ist doch sonnenklar! Die Nazis haben deutsches Land verscherbelt. Glatt verscherbelt! Mussten sie Krieg machen? Nein! Mussten sie alles aufs Spiel stellen? Nein! Das war nicht nur der Gröfatz, dieser Verbrecher! Das war auch die deutsche Rüstungsindustrie. Auch die! Alle Verbrecher! Alle!

Mutter: Pass auf, Fred, pass auf, der Krieg ist noch nicht zu Ende!

Vater tritt zum Fenster, trotzig: Doch! Für uns schon! Hört ihr noch was? Ruhe draußen! Die Bomber fliegen vorbei. Das ist klar. Den Bismarckturm haben sie nicht mehr beschossen. Ist auch klar. Ihre toten Kameraden haben sie abgeholt. Also: Die Amis wissen, hier in der Oberstadt ist alles friedlich. Für uns ist das Dritte Reich gestorben! Jörg, hol mal die Flasche Wein aus dem Keller. Ich denke, wir stoßen an, auch darauf, dass du jetzt erwachsen wirst!

Sohn: Nein! Will ich nicht! Eilt ab ins Nebenzimmer.

 

 

4. Szene

Mutter: Jörg! Will hinterher, Sohn schließt ab. Jörg!

Vater sinkt auf das Sofa: Lass ihn! Lass ihn! Hab ihm zu viel zugemutet. Ja, ja! Er muss das erst mal verarbeiten alles!

Mutter: Wenn er sich was antut!?

Vater: Wird er nicht!

Mutter: Gott oh Gott! Wenn nur erst Frieden wäre!

Vater: Thea, für uns ist Frieden. Ich spüre das. Die Amerikaner, die Füchse, die opfern keine Soldaten mehr. Morgen oder übermorgen kommt hier mal eine Patrouille vorbei, im Jeep, natürlich im Jeep, und das war’s dann!

Mutter: Du bist ja wie verwandelt!

Vater: Ich hole mal den Wein! Steht auf und geht zur Tür. Rede mit Jörg inzwischen. Sag ihm, ich werde ihm alles erzählen! Alles!  Ab.

Mutter tritt zur linken Zimmertür: Jörg! Klopft zaghaft. Jörg! Ich soll dir sagen, Vati wird dir alles erzählen! Hörst du? Wir konnten doch nicht! Manchmal habe ich auch mitgehört nachts. Oft haben wir überlegt, ob wir dich einweihen sollen. Verzeih mir! Komm, verzeih mir. Es wird jetzt alles gut! Wir sind heil durch den Krieg gekommen. Stell dir das doch mal vor! Jetzt hast du eine bessere Zukunft! Komm, sei lieb! Vati ist doch ein Guter! Er war einfach vorsichtig. Ach, Jörg, lass mich nicht betteln. Deine alte Mutter! Schlüssel im Schloss dreht sich. Na komm!

Sohn kommt zurück, bleibt in der Tür: Zukunft? Was für eine Zukunft? Lehnt sich an die Tür.

Mutter: Junge, du musst nicht mehr in den Krieg! Stell dir das doch mal vor! Komm setz dich!

Sohn geht langsam zum Tisch, setzt sich: Wir Deutschen haben keine Zukunft!

Mutter: Doch! Doch! Jetzt wird alles gut!

Sohn: Stell dir vor, die Russen kommen!

Mutter: Ach, was die da reden in London!

Sohn: Siehst du, du glaubst denen auch nicht!

Mutter: Jetzt haben wir erst mal die Amerikaner in der Stadt!

Sohn: Sind auch unsere Feinde!

Mutter: Ich kenne mich nicht aus mit Feinden. War nie im Krieg. Und die Russen, vielleicht sind die gar nicht so schlimm!

Vater kommt mit einer Flasche Wein zurück, froh, seinen Sohn zu sehen: Familie! Schön! Jetzt leisten wir uns einen Schluck!

Mutter: Jörg denkt, er hat nun keine Zukunft!

Vater öffnet die Flasche Wein, Mutter stellt Gläser auf den Tisch: Keine Zukunft? Junge, ich bin kein Hellseher, das weißt du! Aber ich habe so meine Erfahrungen. Schließlich habe ich schon einiges verkraften müssen in meinem Leben. Ich sage mal so: Die Weimarer Republik kommt nicht zurück. Geht nicht, ist vorbei! Das ist klar. Aber so ein Parlament, so eine Quasselbude, gibt’s bestimmt wieder in Deutschland. Das ist eine schöne Erfindung! Verstehst du? Die reden und reden in ihrer schmucken Bude, schön und laut fürs Volk, und die Industrie, die große Industrie, die macht, was sie will. Und wenn die wieder Panzer bauen darf, die Industrie, dann baut die auch wieder Panzer! Das lässt die nicht, nicht ums Verrecken! Und dann dauert es auch nicht lange, und Nazis marschieren wieder durch die Straßen. Mit Trommeln und allen Fahnen.

Mutter: Gott oh Gott! Was hat denn das mit seiner Zukunft zu tun?

Vater: Alles! Meine Liebe! Alles! Schenkt Wein ein: Vielleicht finden sich ein paar Tapfere, die verhindern, dass in Deutschland wieder gerüstet wird. Aber man wird sie beschimpfen und verleumden! Wahrscheinlich sogar ins Gefängnis stecken. Wenn die Gauner erst wieder im Sattel sitzen…

Sohn: Aber Papa, du hast doch noch gar nichts getrunken!

Vater erhebt sein Glas: Auf deine friedliche Zukunft, mein Sohn!

Mutter erhebt ihr Glas: Und auf ein gutes Abitur!

Vater: Und auf deine Arbeit, Junge!

Sohn: Abitur! Arbeit! Schön!

Mutter: Wenn du entschieden hast, was du mal werden willst.

Vater: Und dass du eine liebe Frau hast und liebe Kinder, und dass deine Jungs nicht in den Krieg müssen!

Sohn: Ich weiß nicht!

Vater plötzlich allen Elan verlierend: Ich weiß es doch auch nicht! Verdammt! Verdammt! Sehr sentimental: Ich weiß es auch nicht! Die Zukunft ist ein schwarzes Loch. Rafft sich wieder auf: Stoßen wir an auf das Beste, das Schönste, das Kostbarste, den Frieden! Erhebt sein Glas!

Männerstimme von der Straße grimmig: Fahne weg!

Vater erstarrt, dreht sich verstört um zum Fenster: Was?

Männerstimme von der Straße: Da kommen welche!

Sohn stürzt um Fenster, schaut nach links die Straße lang: Soldaten!

Vater: Amis?

Sohn: Deutsche! Deutsche Soldaten!

Vater entsetzt: Verfault! Nimm die Fahne rein! Schnell, schnell!

Sohn überrascht: Warum?

Vater: Schnell! Stürzt zum Fenster, reißt die Fahne aus der Halterung, drückt sie dem Sohn in die Hände: In den Keller, den Keller, hörst du? Unter die Kartoffelkiste! Los! Los! Beeil dich!

Sohn: Aber…, du zitterst ja!

Vater: Kein aber! Los, los! Mach schnell!

Sohn zur Mutter: Verstehst du das?

Mutter: Mach, was Vati sagt.

Sohn verstört: Ja, ja! Mit der weißen Fahne ab.

 

 

5. Szene

Vater schwer atmend: Das hat uns noch gefehlt!

Mutter: Es sind Deutsche! Warum zitterst du?

Vater: Bloß nicht sehen lassen jetzt! Versucht, nach links die Straße hoch zu schauen: Aha, sieht aus wie Landser. Drei Versprengte vermutlich. Sie rufen zu den Häusern hoch. Und alle Fahnen weg. Ja, ja, so ist das! Zum Glück scheint es keine SS zu sein.

Mutter total irritiert: Und wir dachten schon, es ist alles vorbei.

Vater: Sieht nicht so aus im Moment!

Mutter: Hoffentlich geht Jörg nicht auf die Straße.

Vater: Ruf ihn!

Mutter zur Wohnungstür, ruft in den Flur: Jörg!

Stimme des Sohns: Ja?

Mutter: Bitte, komm hoch!

Stimme des Sohns: Komme ja schon!

Mutter: Er kommt!

Vater schaut wieder vorsichtig: Die scheinen angetrunken zu sein.

Mutter: Gott oh Gott!

Vater: Gefährlich!

Mutter: Meinst du?

Vater: Weiß man nicht! Noch sind sie oben Ecke Sidonienstraße. Vielleicht gehen sie zurück.

Mutter: Vielleicht haben wir Glück!

Sohn kommt zurück: Deutsche Soldaten, Vati, ist doch eigentlich gut, oder?

Vater: Fahne gut versteckt?

Sohn: Ja, ja, ganz hinten unter der Kiste.

Vater: Ich danke dir.

Sohn: Hast gezittert vorhin. Warum?

Vater sehr bestimmt: Jörg, wenn das Irre sind da draußen, verstehst du, solche wie der mit der Panzerfaust gestern, dann erschießen die jeden, der eine weiße Fahne gehisst hat.

Sohn: Und? Sind sie irre?

Vater: Ich weiß noch nicht!

Sohn will zum Fenster: Mal gucken!

Vater hält ihn zurück: Auf keinen Fall! Nicht blicken lassen! Auf keinen Fall!

Unverständliches Grölen kommt näher. Vater, Mutter und Sohn stehen angespannt neben den Fenstern hinter den Gardinen.

Mutter: Versteht ihr was?

Vater: Kein Wort!

Sohn: Klingt wie Besoffene!

Vater: Sagte ich ja schon!

Mutter: Oh, jetzt sind sie aber ziemlich nahe.

Vater: Wahrscheinlich bei Krause. Der wird doch nicht reden wollen mit denen!

Sohn: Ist ein alter Hitzkopf, nicht?

Mutter: Ja, der streitet sich gern ein bisschen. Kann es nicht lassen.

Sohn: Habt ihr verstanden?

Vater: Nein.

Sohn: Der sagt was über weiße Fahnen. Das sei Feigheit vor dem Feind. Und Zivilisten weg von der Straße.

Vater hat sehr vorsichtig ein bisschen gespäht: Habe sie gesehen. Sie kommen. Ich glaub, ein Leutnant und zwei Landser. Nicht blicken lassen jetzt, nicht blicken lassen!

Leutnant auf der Straße grölend: Keine Angst, Leute! Keine Angst! Der Feind ist weit! Weit sag ich euch! Haben alles im Griff! Alles! Ihr da oben, he, hinter den Fenstern. Keine weiße Fahne! Ist das klar? Keine weiße Fahne! Nix! Sonst muss ich eingreifen. Habt ihr verstanden? Hö! Habt ihr verstanden?

Mutter: Wollen wir nicht antworten?

Vater: Nein, um Himmels Willen, kein Wort! Der Kerl ist unberechenbar!

Leutnant auf der Straße grölend: Habt ihr gehört, feige Bande? Zeigt euch! Deutsche wollt ihr sein? Wir haben alles im Griff hier! Alles! Kein Ami weit und breit! Folgendes: Befehl! Von oben! Ganz von oben! Befehl! Alle, die ein Gewehr halten können, melden sich sofort Turnhalle Pestalozzischule! Ist das klar? Hö! Turnhalle Pestalozzischule!

Sohn: Musst du los?

Vater: Der blufft!

Mutter: Na hoffentlich!

Leutnant auf der Straße grölend: Deutschland! Wir brauchen Verstärkung! Deutschland! Deutschland! Oh, es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben!

Vater: Verfault! Jetzt kann alles Mögliche passieren!

Leutnant auf der Straße grölend: Hö, ihr Feiglinge da oben. Wir stehen hier für euch, für euch Memmen! Halten unseren Kopf hin! Und was ist der Dank? Ihr Schweine guckt nicht mal zum Fenster raus!

Mutter: Der ist ja wirklich besoffen!

Vater: Wir müssen das durchhalten jetzt.

Sohn: Und wenn er schießt?

Vater: Hoffentlich nicht. Wahrscheinlich hat er schon gar keine Patronen mehr, sonst hätte er längst geballert. So wie der sich benimmt.

Sohn: Wenn er ballert, lockt er die Amis an.

Vater: Scheint ihm schnuppe zu sein.

Mutter: Gott oh Gott!

Vater: Der hilft uns nicht, Mutter, der nicht!

Sohn: Jetzt ist’s still!

Mutter: Überlegt er erst mal.

Vater: Der? Überlegen?

Sohn: Sehr klug scheint er nicht zu sein.

Vater: Wie ein Spieß!

Sohn: Ein Spieß? Was heißt das denn?

Vater: Weißt du nicht? Spieß! Das ist der Rekrutenschinder, der es nicht weiter gebracht hat als auf den Exerzierplatz. Befehle schreien beim Drill, da ist er vorn. Verweist auf die Straße: Man hört es ja!

Leutnant auf der Straße nicht mehr unmittelbar unterm Fenster: Leute! Hört ihr? Haben alles im Griff! Alles!

Sohn: Oh, jetzt ist er weiter.

Vater: Hört sich so an.

Mutter: Na, Gott sei Dank!

Vater zum Sohn, der ans Fenster will: Warte noch! Lass mich! Schaut vorsichtig aus dem Fenster: Jetzt stehen sie an der Ecke zum Platz. Der eine will links, der andere rechts. Jetzt machen sie kehrt. Duckt sich zurück, schaut aber weiter: Jetzt machen sie schon wieder kehrt.

Sohn: Ob das stimmt mit dem Befehl von ganz oben?

Vater: Jetzt gehen sie in die Lungwitzstraße.

Mutter: Gott sei Dank!

Sohn: Gehst du zur Pestalozzischule?

Mutter: Kann denn stimmen, was der gegrölt hat?

Vater tritt zum Tisch: Kommt! Jetzt trinken wir den Schluck Wein! Auf den Schreck!

Sohn zum Tisch: Du gehst also nicht?

Vater: Bin doch nicht irre! Hebt das Glas:  Nicht auf den Schreck! Auf uns!

Mutter hebt ihr Glas: Auf uns!

Sohn hebt sein Glas: Und was wird mit der weißen Fahne?

Vater: Die bleibt, wo sie ist!

Sohn: Zu gefährlich?

Vater: Hast es ja gehört: Es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.

Mutter: Immer diese Sprüche!

 

 

-          Licht aus. Vorhang    -